Erst entdecke ich, daß ich mein federleichtes Zelt (1,1kg!) in Texas gelassen habe, dann verpasse ich den Ehrwalder “Schienenersatz”, weil der nicht am Bahnhof hält. Später, als Joe, seine Zeit opfernd, mich mit dem Auto weiterbefördert, gibt’s Ärger am Fahrkartenschalter in Kempten. Diesmal steht die große Wanderung unter keinem guten Stern. Es herrscht Hitzewelle. Im Zug ist die Luft zum Schneiden. Bei jedem Halt schaltet sich das Elektrische aus und dann schweigt das kümmerliche Luft-Geblässe. Fenster kann man sowieso nicht öffnen. Im Regionalzug bis Ulm ist’s saunaheiß und vom Schaffner, der das vielleicht abstellen könnte, weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht hat er hitzefrei.
Am Abend Ankunft in Gießen, endlich! Vor lauter Ungeduld verlaufe ich mich ein gutes Stück und lerne so die Stadt mehr kennen als mir lieb ist. Erst kurz vor der Dämmerung geht’s ab in die richtige Richtung.
Viel später als geplant bin ich am Stadtrand und frage eine sommerlich geblümte Dame beim Blumengießen in einem Vorgarten, ob sie meine Wasserflasche füllen könnte. “Na klar”, sagt sie und ist so freundlich. Wenig später sitze ich auf der lauschigen Terrasse der Blumengießerin und genieße ein schmackhaftes Mahl. Nach einer guten Flasche Wein Marke Aldi ist der ungute Stern vergessen. Und jetzt kündigt die charmante Gastgeberin auch noch an, dass sie morgen ein Stück mitwandern will.
Nach erquickendem Schlaf und gutem Frühstück brechen wir wohlgemut auf. Wie angenehm, mal zu zweit! Nach ein paar Stunden sagt sie aber „genug!“, wir machen Rast und sie verschwindet zu einer nahegelegenen Bahnhofsstation. Ich schau ihr nach und denke: Schade!
So plötzlich wieder allein, rette ich mich jetzt in ehrgeizige Sturheit. Ich beschließe, noch heute bis Marburg zu laufen! Gießen – Marburg, das sind insgesamt 35 km. Natürlich das Dümmste, was man so unvorbereitet am ersten Wandertag machen kann. Tippl, tippl, tippl, – warum nur brennen meine Fusssohlen plötzlich? Ich schaue nach: feuerrot. Und wie grobmaschig meine alten Wandersocken innen wirklich sind. O weh, ich hab ein Problem!
Aber eine Indianerin kennt keinen Schmerz. Hundemüde schleiche ich mich gegen Abend an den Stadtrand heran. Mit gekünsteltem Lächeln wehre ich mich gegen neugierige Blicke, die meinen übergroßen Rucksack (13 kg), Stöcke und mein erschöpftes Äußeres taxieren. Nur nicht hinken! Ein älterer Herr, weißes Hemd, knallrote Shorts, mit Schäferhund, pflanzt sich breitbeinig vor mir auf: “Hallo, was machen Sie denn da?“ Meine Widerstandskräfte stark reduziert, gebe ich brav Auskunft. Das hat Folgen: Er empfiehlt sich als der geborene Quartiersucher. Ich steige in sein Auto, und ab geht’s ins Quartier, von wegen, – natürlich nicht. Das erste Quartier ist überteuert und düster, das zweite nicht vorhanden und das dritte steuert er erst gar nicht an, weil er jetzt vorschlägt, dass ich viel angenehmer bei ihm privat übernachte. Ich soll ihn einfach zum Abendessen in ein Restaurant einladen. Und ich mache versehens mit.
Der Abend wird zäh: Mit einem Gläschen Aperol in der Hand sitze ich noch spät in seinem Wohnzimmer und höre mir höflich seine lange Liste von Lebensenttäuschungen an: das Geschäft ging schlecht, die Frau verließ ihn, das fast professionelle Tennisspielen fand ein jähes Ende wegen Rückenschmerzen. Jetzt hat er nur noch den Hund als einzig treuen Gesellen. Spät, viel zu spät, schaffe ich die Kurve ins Gästezimmer im Souterrain. Als ich mich noch zum Badezimmer aufmache, begegnet er mir “zufällig” in Unterwäsche. Das Bad stinkt, der Hund stinkt, die müden Knochen ächzen auf der harten Matratze und wer weiß, auf was ich mich noch gefaßt machen muss. Na, gute Nacht!
Am nächsten Morgen bin ich heilfroh, nur miserabel geschlafen zu haben. Ich lass mich noch auf ein Höflichkeitsfrühstück beim nahen Flohmarkt ein, – das Croissant ist in der Morgen-Hitze schon ganz welk – und übernehme gerne die Abschiedszeche. “Nein, nach der Besichtigung vom Landgrafenschloss werden wir uns nicht nochmals treffen!“, sage ich jetzt entschieden. Dann geht’s um die nächste Ecke. Jetzt erst hole ich tief Luft. Ich könnte mich ohrfeigen: Wieso hatte ich so wenig Durchsetzungsvermögen?
Jetzt will ich nicht mehr all zu viel Zeit in Marburg verbringen. Aber mit der Macht dieser Hitze habe ich nicht gerechnet. Nach dem Landgrafenschloß und ein paar schönen Gassen plumpse ich auf eine Bank vor historischer Fachwerk-Kulisse und vermag nur mehr in meine frisch erworbene Wanderkarte zu starren. Wie gelähmt sitze ich da, total entscheidungsunfähig. Es kostet mich mein allerletztes Fünkchen Kraft, mich endlich aufzuraffen. Ich arbeite mich durch staubige Straßen mit viel Verkehr, entdecke schließlich ein geschlossenes Tourismusbüro, zerre mein Handy hervor, und gebe von der Liste vor der Tür ein paar Namen ein. So lande ich dort, wo ich hingehöre: in einer Unterkunft. Aber die ist zufällig die allerbeste: Hotel Marburger Hof. Bald schon öffnet sich die Tür zu einem ruhigen, gepflegten, sauberen Zimmer, und das zum günstigen Sonderpreis. Ein Traum wird wahr, auch wenn ich es vor lauter Müdigkeit kaum mehr merke. Nur noch Waschen, Duschen, die Blasen mit Nadel und Faden austrocknen und dann den Ausschaltknopf der Fernbedienung finden, bevor die Augendeckel ganz zufallen.
Überraschung am Morgen: ein Frühstück, so bombastisch wie noch nie. Erlesene Zutaten, feinste Salate, Kuchen, Müslimischungen, Brot der Superlative, ja sogar Sekt ist inbegriffen! Ich genieße mit großem Durchhaltungsvermögen. Und während ich ausgiebig in mich hineinschaufle, kommt mir ein Gedanke. Warum nicht eine zweite Nacht in diesem Paradies verbringen, noch dazu mit solchen Riesenblasen an den Fussballen, die noch lange der Heilung bedürfen? Aber dann schiele ich doch auf die Uhr: Checkout ist noch nicht vorbei. Ich kann doch nicht einfach alles über den Haufen schmeißen.
Los geht’s mit neuentwickelter Sandwichmethode: eine Extraschicht Mullverband um die wehen Fussballen, eingehüllt in Socken (mit der rauhen Seite nach außen), eingeschnürt in superstarke Teva-Sandalen. Ein hübscher Panoramaweg vis-a-vis dem Landgrafenschloss Richtung Nordwest läßt die Leiden erst Mal vergessen. Ade, schönes, romantisches Fachwerk-Städtchen!
Ich habe dann noch tagelang herumgepflastert und fast meine gesamten Vorräte an Mullbinden, Verbände, Blasenpflaster und Wundcremen aufgebraucht, aber es tatsächlich mit dem Heilen hinbekommen.
Und wie es weiterging? Das hat mich erst heute mein Mann Joe auch gefragt:
„It wasn’t so exciting this time, was it?“
Ich gehe über Dagobertshausen, extra, weil mir der Name so gut gefiel – unser Sohn Finn sagte: “Entenhausen“ wäre noch besser! -, sehe einen älteren Mann an seinem Küchenfenster hantieren. Ich habe das dumme Gefühl, dass ich mit ihm in Berührung komme. So spindisiert der Mensch, wenn er alleine geht. Und doch treffe ich ihn in der nächsten halben Stunde gleich zwei Mal! Ein Mal, als ich vor seiner Haustüre kurz raste und sein kleiner Hund wild kläffend an mir vorbeiläuft und das zweite Mal, als das Mann-Hund-Paar vom Gassigehen zurückkommt und ich gerade unter einer dicken, alten Weißeiche am Ortsausgang meine nächste Pause einlege. Wir kommen sogar kurz ins Gespräch.
Ich gehe durch tiefe Wälder und habe Gelegenheit, den Weg minutiös kennenzulernen: meine Angewohnheit, mit meinen Gehstöcken die Brennessel aus meinem Pfad zu schlagen hat nämlich zur Folge, dass ich einen Gummischuh am Stockende irgendwohin katapultiere. Ich suche stundenlang und beweise einmal mehr allzu gründliches Durchhaltevermögen.
Es wird Abend. Ich komme nach Caldern und suche am Ortsrand vergeblich nach einem Brunnen, der auf meiner Karte eingezeichnet ist. Dann lande ich bei einer gastfreundlichen Frau, die mich gleich in ihr Wohnzimmer bittet. Ich tanke viel Wasser und muß ihr von meinem Unternehmen berichten. Sie: „So was hört man ja nur im Fernsehen!“ Die nächste Wirtschaft liege weit draußen. Ich will in die andere Richtung. Essen ist jetzt nicht so wichtig, Hauptsache ich finde ein Nachtquartier im Freien. Ich suche und suche in beginnender Dämmerung. Ein blauer Punkt auf der Landkarte entpuppt sich als ein Mücken-Brennessel-Sumpfloch. Nichts wie weiter und tiefer in den Wald. Schließlich wasche ich mich in einem 3cm tiefen Rinnsal mit meiner Schmutzwäsche als Waschlappen. Schwer zu sagen, ob ich jetzt weniger klebe. Mir wird allerdings himmelangst, wenn ich an die Borreliose-Gefahr so tief im Gestrüpp im Dunkeln denke. Vorsichtshalber spraye ich mich im Dunkeln von Kopf bis Fuss wie wild ein.
Dann verbringe ich die Nacht in armseliger Lage: Ich pflanze mein Tarp-Zelt auf einem grasüberwachsenen, verlassenen Weg auf und gleiche das leichte Gefälle damit aus, dass ich unter meine Füsse den Rucksack stecke. Mit den Füssen und dem Kopf hochgelagert, liege ich jetzt gekrümmt wie in einer Hängematte. Und Überraschung am Rande: Die neuen Wanderstecken passen nicht in die Ösen der Dachkonstruktion meines Tarp-Zeltes. Ich kann sie nur notdürftig unter die Plane klemmen. Bloß kein Wind bitte, denn sonst droht Kollaps.
Zu allem Übel wirkt die Dunkelheit wie ein dröhnender Amplituden-Verstärker: Hier ein knackender Ast, dort ein Laut, vielleicht ein unterdrücktes Schnaufen oder Fauchen sogar. So schlafe ich nur zwei Mal kurz ein und sehne mich nach dem Morgen.
Mit Höhen und Tiefen dieser Wanderung verhält es sich wie mit deutscher Mittelgebirgslandschaft: Mal geht es rauf, mal runter, mal gibt es Freude, mal Disaster. An der schönen Lennequelle beim Gipfel des “Hohen Asten” spricht mich ein älterer Zeitgenosse aggressiv anzüglich an. Das verleidet mir die weitere Suche nach einem Nachtquartier im Freien und ich lande auf einem Campingplatz mit perfektem Rasen. Nur grölen dort die jungen Burschen, die endlich mal die Sau rauslassen wollen.
Ein starkes Gewitter beruhigt zwar die alkoholisierten Stimmen. Allerdings ist nun die Frage, ob meine Konstruktion mit Wanderstecken dem Wolkenbruch mit Blitz und Donner standhalten. Die Antwort ist erstaunlicherweise ja. Dabei dient mein saugfähiges kleines Handtuch als ausgezeichneter Tropfenfänger, was mir beim Rauskrabbeln am Morgen sogar nasse Haare erspart.
Bei meinem Nachtquartier auf romantischer Aussichtsstelle hoch über dem Ort Hatzfeld hör ich Schritte. Ich bin sofort hell wach. Eine Stirnlampe scheint mir ins Gesicht: „Was machen Sie denn da?“ Ich antworte: „Ich übernachte hier. Und Sie?“ Der Mann ist schon wieder verschwunden. Anscheinend ein Jogger, der vor Morgengrauen hier unterwegs ist. Wieder zu wenig Schlaf!
Aber ich verbringe auch eine gute Nacht im Freien, und die ist besonders sauer verdient. Stundenlang war ich auf der Ausschau nach einem versteckten Quartier nördlich vom Rothaargebirge und war doch nicht fündig geworden. Bei einer geeigneten Stelle waren plötzlich Jugendliche mit quietschenden Reifen vorgefahren und ich mußte mich in ihrem Scheinwerferlicht davonmachen, was nicht gerade angenehm war: ich wollte ja möglichst unbeobachtet unterwegs sein. Kühe auf dunklen Weiden klotzten mich blöde an und ich fand nichts außer Stacheldrahtzäune, Feld- und Asphaltwege.
Das Blöde in so einer Situation ist, dass man nicht einfach aufgeben kann. Also weiter und immer weiter. Stunden später sah ich im Licht meiner Stirnlampe die Umrisse einer Scheune. Sie lag hinter einem Zaun auf einer Weide. Die Öffnung vermutete ich auf einer der Straße abgewandten Seite. Ich also schnell über den Zaun – nicht ohne meinen Rucksack vorher darüber zu werfen – und siehe da: ich war endlich angekommen. Mir war zum Jauchzen zu Mute: eine einfache Scheune mit holprigem Boden als Hort der Geborgenheit! Ich schlief selig wie im feinsten Bett, gut gepolstert und warm in meinem feinen Daunenschlafsack (Mountain Gear, Glacier 500) nur mit dem Unterschied, dass der Nachthimmel in seiner ganzen Schönheit mir zu Füßen lag.
Das war aber noch nicht der Höhepunkt der Tour. Der kam am Tage auf einer Hochebene im Rothaargebirge, des schönen Clementberges. Schon von Weitem hörte ich Schafe blöken. Eine Heidelandschaft tat sich plötzlich auf, teilweise rosarot blühend. Da, das klassische Bild eines Schäfers: breitkrempiger Hut, Rucksack, globige Stiefel, gestützt auf seinen Schäferstab mit kleiner Schaufel vorne, um ihn versammelt drei Hüterhunde, einer jung, einer mittelalt, einer alt. Der Schäfer gab ruhige Kommandos. Der Jüngste war im Einsatz, war, wie sich später herausstellte, gerade in Ausbildung und machte die Arbeit ganz allein. Mit weit heraushängender Zunge und lachendem Gesicht, raste er mal hier, mal dort, um die Schafherde wie eine Staubwolke vor sich herzujagen. Der Hund war im Paradies.
Ich konnte nicht widerstehen: ich wagte die typischen Standard-Fragen, der Schäfer hatte sie sicher schon hunderte Mal gehört. Zuerst ging’s natürlich um die Probleme des Schäfertums in moderner Zeit. Der Schäfer wurde langsam redsamer. Alles mache sein Leben schwer: der Preisverfall, die Minderwertigkeit der Wolle, nur 15 € pro Lamm. Die Blaubeersammler mit verbotenem Blaubeerrechnen, die seine Autoreifen aufschlitzen, weil sie meinen, die Heide gehöre ihnen. Der Förster, der ihn anhöre, aber nicht wirklich auf seiner Seite stehe und einschreite. Das Fernsehen, das sein Leben nur als romantische Schnulze portraitiere. Konkurrenz China! Ein Wolf, der jetzt in der nordrhein-westfälischen Stadt Meschede gesichtet wurde. Die Radler, die einfach mitten durch die Herde stieben, nur um die besten Bilder zu schießen.
Über 2 Stunden plauderten wir und ich hätte noch Tage mit diesem besonderen Zeitgenossen verbringen wollen. Auch konnte ich mich nicht sattsehen, mit welcher Intelligenz seine Hüterhunde am Werk waren. Auf den leisesten Befehl über 100 Meter hinweg reagierte der junge Hund sofort. Und wenn der Auszubildende es mal nicht ganz packte, brauchte der Schäfer nur seinen Alten in die andere Richtung schicken und schon war die Herde wieder vereint. Immerhin ging es hier um 1200 Heidschnucken und einige Ziegen: tagsüber auf den Heid- und Wiesenflächen, nachts irgendwo im Pferch. Für einen echten Schäfer eine erfüllende Lebensaufgabe. Um so mehr schmerzte es mich, seinen Berufsstand unter so vielen Aspekten massiv bedroht zu sehen: das Ende einer Jahrtausende alten, ehrwürdigen Tradition.
Ich habe mich geängstigt: nicht nur vor den Zecken, sondern auch vor dem erwähnten Wolf, von dem ich zufällig auch im Fernsehen Bilder gesehen hatte und der sich genau in meiner Gegend aufhielt. Um so schöner waren die Nächte in sanften Betten, oder besondere Begegnungen wie mit dem Schäfer, zu denen ich sonst keine Gelegenheit habe. Der Rollenwechsel macht’s möglich.
Eine holländische Touristenfamilie bewirtete mich in ihrer Ferienwohnung einfach so am Weg mit herrlicher Buttermilch.
In einer Kneipe erzählten mir Einheimische über den bekanntesten Taugenichts ihres Dorfs: er residiert im schmucken Wasserschloss und ist der Sprößling eines altansäßigen Adelsgeschlechts. Am nächsten Morgen bewunderte ich seine stolze Anlage von außen: eine prächtige Gartenanlage mit Schloss, Stallungen, Wappen und Kutschen im Museum.
Der Wirt der Hiebammenhütte am nördlichen Rand des 840 m hohen Rothaargebirges erklärte mir, wo ich ungestört von den Blicken seiner Gäste in seinem Bach mich waschen könnte. Den Schnaps, den er mir großzügigerweise in meine Trinkwasserflasche gießen wollte, lehnte ich zwar dankend ab, aß aber dafür einen Extraberg von seinem Kartoffelsalat, der weit und breit seines Gleichen sucht.
In der einsam gelegenen, idyllischen Pension Hof Dambach nördlich von Dachsloch wurde ich unverhofft nach einem langen, anstrengenden Tag mit einem mehrgängigen Menu wieder aufgepäppelt (Halbpension mit Übernachtung € 51). Danach luden mich die Wirtsleute an ihren Stammtisch ein, wo ich mich einen Abend lang fast wie ein Familienmitglied fühlen durfte. Auf dem nahen Wiesenhang bimmelten die Kuhglocken, während der Seniorchef vom Prinzengeschlecht der Sayn-Wittgensteiner von Berleburg andächtig erzählte.
Auf dem Land zollt man dem Hochadel immer noch viel Respekt. Kein Wunder, handelt es sich doch im Fall des Hauses Berleburg bis heute um den größten privaten Waldbesitzer Nordrhein-Westfalens. Bis vor wenigen Jahren saß auch im deutschen Bundestag ein Prinz zu Sayn-Wittgenstein. Der Waldbesitz der Berleburger Prinzen reicht bis in die Nachbarschaft des Hofes Dambach und man unterhält die allerbesten Beziehungen miteinander.
Im Möhne-Tal, wo die Nazis einst aufgrund seiner großen Abgeschiedenheit ein großes unterirdisches Benzinlager versteckt hatten, kam endlich der große Dauerregen. Endlich? Weil ich schon so lange meinen trockenen Regenponcho im Rucksack mitgetragen hatte. Es wurde kalt und kälter und meine Wasservorräte gingen gerade zur Neige. Mit meiner leichten Bluse, Shorts und Teva-Sandalen wurde es langsam hübsch ungemütlich. Ein Klo wäre auch willkommen gewesen. Da, an einer finsteren Stelle inmitten der Einsamkeit, ein paar Gebäude mit Schild: „Premium Girls“. Ich natürlich nichts wie hin und drücke die Klingel. In meiner Fantasie malte ich mir schon eine unterhaltende Begegnung mit einem “Premium-Girl” aus. Leider nichts dergleichen. Ich klingelte bei der Nachbartür. Auch nichts. Dann stand ich vor dem letzten Eingang. Ein gepflegter Garten. Ein solider Bürger mit Brille machte auf. Er bat mich herein. Ich durfte mich umziehen, Bad benützen, meine Wasservorräte füllen. Dann ein Gespräch über Politik. Er kannte sich aus, der Mann aus der CDU. Er hatte eine Menge Zahlen im Kopf, um seine politischen Argumente zu unterstützen. Beim Sohn tippte ich auf Junge Union. Die Frau des Hauses blieb zurückhaltend in der Küche. Am Schluß wurde die häusliche Wanderkarte ausgefaltet. Der Weg wurde besprochen, ich dankte für die guten Tipps, weiter ging es.
Wie schön, dass ich als einzelne Frau an einsamer Tür klingeln darf, nichts zu fürchten habe und auch das Wasser nicht vergiftet ist. Wie oft habe ich schon großzügige Gastfreundlichkeit tanken dürfen, und das, obwohl ich vielleicht nur ein paar Augenblicke im Leben dort verweilen würde.
Am Schluß noch ein Erlebnis ganz anderer Art. Es regnete immer noch in Strömen. Ich ging auf einer kleinen Landstraße Richtung Büren im Almetal. Nach dem Ort Kneblinghausen stand an einer Kurve eine schlichte Scheune aus altem Ziegelstein. Daneben eine dicke, alte Linde , und ein wunderbar ruhiger Bildstock. Tropfnass stand ich da im Dauerregen, und konnte mich nicht sattsehen an dieser Harmonie. Beim Weitergehen reckte ich mir immer noch den Kopf danach aus.
So unterschiedlich können Reiseerlebnisse sein: Mal läßt man sich von der berühmten Rialto-Brücke in Venedig, mal von einem schlichten Ensembe an einer kleinen Landstraße beeindrucken. Auch wenn mir unser jüngerer Sohn Finn widersprechen würde, behaupte ich: Mit einem Reiseführer haben die bewegendsten Momente mitunter sehr wenig zu tun. Das sind eben im wahrsten Sinne des Wortes “Augen-Blicke”, Blicke, die mehr mit dem inneren Auge spontan wahrgenommen werden.
Übrigens habe ich gerade erst heute auf Google Map entdeckt, dass diese kleine, unscheinbare Landstraße zwischen Knebling- und Siddinghausen eine alte Römerstraße ist. Schade fast, wenn sie am Ende doch im Reiseführer stünde.
ps: hier noch ein paar Restbilder, die auch irgendwo zum Thema exciting-not exciting gehören. Wenn man sie anklickt, sieht man sie wie alle im Text in voller Größe.