Wandern 2017: Wandern im Reich der Wölfe

Ausser mir ist  niemand auf der Strecke, im Juni 2017, dem letzten Abschnitt meiner großen Deutschlanddurchwanderung. Kein Spaziergänger weit und breit. Mein riesig schwarzer Regenponcho flattert wie ein Segel im Wind, hinter der Kapuze noch ein zweiter Höcker für den übergroßen Rucksack, dazu Wandersandalen und Nordic-Walking-Stöcke.  Schon ein echter Hingucker!

“Ja, wo wollen Sie denn noch hin?”

Bisweilen bremst ein Auto, das Autofenster wird heruntergeradelt und dann kommen die berühmten Standardfragen wie “Na, wo wollen Sie denn noch hin?“ „Machen Sie den Jakobsweg?“ “Wieviel Kilometer machen Sie denn so am Tag?”

Nein, ich will natürlich nicht gesehen werden oder gar auffallen, aber wie soll ich mich verstecken, so allein auf weiter Flur? Einmal in den Alpen hat mir doch aller Ernstes ein Hüttenwirt gesagt, dass man so Leute wie mich einsperren sollte. Ich würde als Frau nur mich selber in Gefahr bringen. Seither bin ich scheu geworden, vor allem wenn ich so exponiert bei Regen oder gegen Abend noch unterwegs bin. Ausserdem frage ich mich ja auch, wohin der Kurs geht. Wohin eigentlich? Warum so stur in eine Richtung, warum nicht beispielsweise einfach im Kreis?

Was motiviert mich, immer weiter zu gehen?  Natürlich genieße ich, noch so fit zu sein, noch soundsoviel zu “können”. Aber das ist nicht die Hauptsache.  Auch nicht die Kilometeranzahl. Ich gehe, um lebendig zu sein, um wahrzunehmen und auch, um Abenteuer zu haben. Vielleicht wie dieser Aleksander Doba, ein Pole, von dem ich gerade gelesen habe, dass er vor kurzem zum dritten Mal mit seinem Kayak über den Atlantik gepaddelt ist. “I do not want to be a little gray man,” hat er gesagt, fühlen dass er lebt, mit seinen 71 Jahren (https://www.nytimes.com/interactive/2018/03/22/magazine/voyages-kayaking-across-ocean-at-70.html?src=trending&module=Ribbon&version=context&region=Header&action=click&contentCollection=Trending&pgtype=article).

Oft aber wandere ich dann stundenlang durch Monotonie. Deutsche Landschaft heißt heute nur zu oft Solarfelder, sterile Maisfelder ohne Hälmchen Unkraut (Ökogas-Produktion!), kränkelnde, schwächelnde Fichten-Monoplantagen genannt “Wälder”, öde Siedlungen ohne Geschäft oder Kirchturm. Ich gehe mechanisch dahin,  schwenke millionenfach meine Nordic Walking Stöcke nach vorne, kopfleer, während meine Augen den irren Teer-Streifen-Muster ausgebesserter Wege folgen.

MOnotonie mit interessantem Muster
Kilometer um Kilometer monotone Wege mit Teerstreifenmuster

Und dann – siehe da! – kommt es plötzlich zu einer Begegnung. Für den Bruchteil einer Sekunde streift mein Blick einen Menschen. ‘Sieht nett aus!’, denke ich mir.

Ich halte an, stemme meine Wanderstöcke schräg vor mich hin, stütze meine Arme darauf und mein munterer Begrüßungssatz wird erwidert. Es handelt sich um einen Jungbauer in Ringstedt. Er hält mit der Mistgabel inne und erzählt mir von den momentan etwas besseren Milchpreisen und dass er hoffe, dass es so bliebe. Seine Mutterkühe seien auf der Weide und er mache weiter, mit seinem kleineren Betrieb. Das freut mich, auch weil ich vermute, dass er seine Tiere gut hält.

Edelbauer
Freundlich, intelligent, vorausschauend. ein Milchbauer in Ringstedt mit 100 Kühen

 

Wenig später, auf einer Bank neben einem “Gut und Nah”-Lebensmittelladen, verleibe ich mir einen zuckersüßen Butterkuchen zur Stärkung ein. Eine Quatsch-Tante stellt sich vor: “Ich quatsche gerne!” Ich sage: “Ich auch!” Das war’s. Schwupps, ist sie weg.

Mit den Begegnungen geht’s wie beim Wetter, Überraschungen sind inbegriffen: In Dahldorf bei Gnarrenburg gehe ich an großen Rhododendronbüschen entlang. Die wachsen hier in saurer Moorerde sogar im Wald und blühen hübsch. Ein Auto bremst und eine Frau mit langen blonden Haaren lädt mich freundlich zum Pellkartoffelessen mit Quark ein. Wenig später sitze ich am Küchentisch. Die Großmutter sitzt auf der einen Seite, gegenüber die wohlerzogenen Söhne Justus (10 Jahre) und Till (11). “Hast Du schon die Zähne richtig geputzt?” “Ja, Mama, habe ich!” Die deutsche Großmutter ist rüstig, kommt ursprünglich aus der Ukraine. “Wie wär’s mit mehr Quark?” Ich genieße für eine halbe Stunde Familienleben und verdrücke einen Kartoffel nach dem anderen. Mit viel schmackhaftem Quark. Das Gespräch handelt vom kleinen Glück des Schuljahres in Form von Feriencamps,  vom großen Glück des Landlebens, von gesunder Ernährung – ein Mal pro Woche Fleisch, natürlich Bio aus der Nachbarschaft! – und von dem tierischen Glück, wenn der Haushund statt dem üblichen langweiligen Hundefutter aus der Verpackung sorgfältig zusammengestelltes frisches Tierfutter bekommt. Solche Begegnungen gehören schon zu den Kostbarkeiten! Gestärkt und reich beschenkt marschiere ich weiter.

Pellkartoffel mit Topfen
Einladung zu wunderbaren Pellkartoffeln mit Topfen

 

Auf moorigem Boden gedeiht wild wachsender Rhododendron

Zwei Tage später hat das Wetter umgeschlagen und auch meine Stimmung. Gegen Abend kämpfe ich mich durch strömenden Regen und finde nass  und hungrig mit letzter Not Unterkunft in einer Ferienwohnung in Köhlen in der Nähe von Bremen. Jetzt ‘bitte, liebes Schicksal, noch was Eßbares!’ Die einzige Gelegenheit heute ist die Dorfkneipe. Ich öffne die Tür, zwei Tische, alles Stammtisch. Lauter Männer mit Bier und Schnapsgläsern. Ich zögere, aber werde sofort mit freundlicher Geste reingewunken. Sie hätten mich schon durch das Fenster gesehen. Ich hätte wie eine “Mumie” gewirkt, im triefendnassen Poncho mit Kapuze: “Hahaha!” Ich schlucke etwas, aber Hauptsache, denke ich mir, willkommen.  Der eine erzählt vom Klärschlamm, den er heute mit schwerem Gerät umgeladen hat, der andere von Südafrika, wo er herkommt. Der dritte von seiner 85jährigen Mutter, die er betreut. Der vierte hätte auch Mitteilungsbedürfnis, aber ich verstehe ihn kaum: entweder sind’s die Zähne oder sein besonders schweres Plattdeutsch. Ich esse Schweinesteak mit einem etwas aufdringlichem Nachgeschmack, aber bemerke es nur nebenbei, in dieser geselligen Atmosphäre. Der Mensch lebt eben nicht von Brot allein.

Willkommen beim Stammtisch
Gemütliches Schnacken am Stammtisch mit aufgeschlossenen , netten Zeitgenossen

Der nächsten Tag ist trocken und meine Ausrüstung inzwischen auch. Ich gehe einige Stunden und lande in Alfstedt im Garten eines Taubenzüchters. So nebenbei bekomme ich bei einer Tasse Tee Einführung in die Brieftaubenzucht. Er macht es richtig spannend. Ich wußte gar nicht, dass Tauben 70 bis 80 km/h fliegen können und non-stop auf ihrer Mission sind, seien es noch so viele hunderte Kilometer, von Basel, Freiburg oder Radstatt bis nach Hause. Der Hauptfeind sei der Habicht, der in Deutschland trotz großer Population geschützt werde. So gingen bei jedem Flug viele seiner “Tubu”, wie er auf Plattdeutsch sagt, verloren.

Taubenzüchter mit Plan
Brieftaubenzüchter erklärt mir den nächsten Reiseplan seiner “Tubu”
Junge Brieftauben
Diese jungen Brieftauben sind noch nicht ganz ausgereift, sind aber schon im Training

Nicht jede Begegnung, aber überraschend viele haben ihren Reiz. Mein ungewöhnliches Aussehen mit Poncho oder auch einfach mit meinem übergroßen, rot leuchtenden Rucksack, machts möglich.

Wo aber bleibt die Begegnung mit dem, sagen wir,  unheimlichen, vierbeinigen, deutschen Neuankömmling, den mit den langen Zähnen,  fragt sich der geneigte Leser.

Überraschender Besuch

Hinter der Böschung an einem Feldweg rund 50 Kilometer von Bremen war ich mit allen Handgriffen beim Zeltaufstellen fertig. Es war wieder eine Nacht fürs Freie. Die Dämmerung kroch über die Felder, im Hintergrund die Silhouette einer alten Holzmühle. In der Ferne einiger Autoverkehr, etwas näher ein Bauer mit Traktor, der noch seinen Kühen auf dem Feld Wasser brachte. Dann fuhr er heim und es war still. Also rein in die gute Stube, rein ins feine Zelt! Ich sah aufs Handy. Wetterprognose für die Nacht: 8 Grad Celsius. Brrrr! Ich zog alles an, was ich hatte: Leggings, Wanderhose, Unterhemd, Vlies-Pullover mit Kapuze, Windjacke, Socken, Daunenschlafsack und sogar mein Wander-T-shirt nutzte ich noch am Fußende als kleine Extraschicht über dem Daunenschlafsack, darüber mein Regenponcho. Fertig war das große Sandwich. Alles zurrte ich fest, die Schlafsackkapuze zog ich ins Gesicht, und am Ende schaute nur noch die Nasenspitze raus.

Nächtlicher Besuch von zwei Jägern
Nächtlicher Besuch zweier Jäger

Als ich gerade beim Einschlummern bin, schlägt ein Vogel im Gesträuch vor Schreck heftig mit den Flügeln, dann nähert sich Motorengeräusch.  Wagentüren gehen auf. Zwei Männerstimmen. Einer sagt zum anderen: “Aha, mit Zelt!” Dann mit lauter Stimme: “Hallo, bitte, wie lange wollen Sie hier denn bleiben?“ Ich schäle mich umständlich aus diversen Schichten, ruckle an Reißverschlüssen von Innen- und Aussenzelt und strecke meinen Kopf heraus. Vor mir im schwachen Licht die Umrisse zweier Jäger vor ihren Geländewagen oberhalb der Böschung.
“Eine Nacht, warum?“ sage ich verdattert. Darauf der eine: “Wissen Sie, dass es hier nicht nur einen, sondern gleich zwei Wölfe gibt?” Und langsam gedehnt fügt er hinzu: “Wir würden empfehlen, nicht die Nacht hier zu verbringen!“

Erst bleibe ich stumm, dann höre ich mich sagen: “Ich habe nicht wirklich eine Alternative. Ich bleibe besser hier!” Aber weil ich plötzlich meine ganze Wanderung bedroht sehe, hake ich nach: “Wie sieht es denn in der Gegend von Cuxhaven aus, gibt es dort auch Wölfe?” Prompt die Antwort: „Noch viel schlimmer, dort gibt’s ein ganzes Rudel!“

Na, servus, denk ich mir, eigentlich müßten sie sich ja auskennen, die Jäger, wenn sie von ihrem Hochstand sitzen und zusehen müssen, wie sich jemand ihr Wildbrett wegschnappt.

Was tun? Als die beiden verschwunden sind, bin ich erstmal starr vor Angst. Steif liege ich da und wage lange Zeit keine Bewegung. Ich achte auf jedes kleinste Geräusch. Dann packe ich mein kleines Kinderjagdmesser aus, das ich vorsorglich statt Taschenmesser mitgenommen habe, weil es nicht zuklappen kann, und lege es neben meine Trillerpfeife. Das ist mein Waffenarsenal! Hm, nicht gerade sehr eindrucksvoll! An Schlafen mag ich nicht mehr denken. Was, wenn die Bestien wirklich kommen? Jetzt geh ich gar in Kampfstellung: Trillerpfeife im Mund, Messer in der Faust, so verharre ich halb aufgerichtet und lausche nach kleinsten Geräuschen: hier ein Rascheln, dort ein Knacksen.

Kinderjagdmesser gegen Wölfe
Kinderjagdmesser gegen Wölfe

Aber es ist kalt, sehr kalt! Besser, ich ziehe die Hände doch wieder in den Schlafsack zurück und konserviere mein bisschen Wärme. Ach Du Schreck, habe ich nicht gerade etwas wie tappende Pfoten gehört? – War doch nichts! Langsam, nach Stunden in höchster Alarmbereitschaft, jedes kleinste Geräusch mit starkem Herzklopfen registrierend, hilft mir die Müdigkeit, mich langsam zu entspannen, und im Einschlummern denke ich mir, dass doch alles Unsinn war. Welcher Wolf kommt schon auf die Idee, sich mit Klauen und Zähnen durch eine doppelwandige Zeltwand zu arbeiten? Der Wolf, das scheue Wesen! Ich könnte ja groß und gefährlich sein. Nach einsamen Ängsten in eiskalter Juni-Nacht gleite ich endlich gegen halb drei Uhr morgens in erlösenden Schlaf.

Der Spuk ist überstanden
Der Spuk ist überstanden, jetzt herrscht Zuversicht, Freude und vor allem Vorfreude auf  ein gemütliches, geschütztes Quartier am Abend!

Am nächsten Morgen scheint freundlich die Sonne. Der Spuk ist vorbei. In einiger Entfernung grasen die Kühe von gestern und die alte Mühle mit ihren Holzstangen als Windflügel grüßt vom Horizont. Wie sanft und friedlich erscheint doch alles im Morgenlicht! Beim Einpacken fühle ich mich gestärkt, ganz nach dem nicht gerade sehr intelligenten Spruch, “Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.” Heute habe ich mir einen unbeschwerten, leichten Tag verdient, mit einem herrlichen Bett am Abend.

Aber erstmal ist Schmalhans Küchenmeister, denn das Ausflugslokal auf meinem Weg hat Ruhetag. Wenn man erst mal 63 Jahre alt ist, spielt das aber keine so große Rolle. Als Teenager hätte ich vor Kalorienmangel gleich zu zittern angefangen, heute läuft mein Motor auch noch fast ohne Benzin.

Ich schaue mich bei der schönen Mühle mit Reetdach von Viehspecken um. Die Besitzerin kommt heraus und erzählt von ihrem Vater, der noch bis in die 60er Jahre hinein die Mühle mit Wind betrieben  und  erst in den 70er Jahren auf Elektrisch umgerüstet habe. Ihre Kinder kämen selten zu Besuch, sagt sie und ich merke, dass es ihr gut tut, zu plaudern.

Frau mit Mühle
Frau mit Mühle: “Wie wär’s mit einer Rolle Papierhandtücher?”

Am Ende will sie mir etwas mitgeben, sie weiß nur nicht was: “Wie wär’s mit einer Rolle Papierhandtücher?” Ich verabschiede mich schweren Herzens. Wenn ich im Kreis wandern würde, träfen wir uns wieder. Bei meinem Kurs leider nicht. Immer wieder geht es ums Nie-Wiedersehen. Wie unnatürlich eigentlich!

Pfotenabdruck im Sand vom Wolf?
Pfotenabdruck im Sand von Meister Isegrim?

Das Thema “Wolf” sollte mich die ganze Fernwanderung nicht mehr verlassen. Sogar tagsüber, wenn ich einen allzu großen Pfotenabdruck im sandigen Weg sah, wurde es mir schon mulmig. Dabei bemerkte ich, dass in diesem Sommer 2017 genau zwei Geschichten im Umlauf waren. Geschichte Nummer eins: Eine Frau auf dem Fahrrad fuhr mit Hund durch den Wald und der Hund wurde von einem Wolf längere Zeit verfolgt. Der Frau ist aber nichts passiert. Geschichte Nummer zwei: Jemand war von Wölfen getötet worden. Das war aber nicht in Deutschland sondern in Canada. Diese zwei Geschichten hörte ich überall und sie zeigten offenbar Wirkung. Eine Frau sagte mir, dass sie nicht mehr in den Wald ginge, sie habe viel zu viel Angst vor Wölfen. Ähnliches hörte ich öfters.

Die sozialen Medien beeinflußen mit ihren Geschichten unser Verhalten. Der “Spaziergang” der Deutschen, bisher fast eine heilige Kuh, kommt in Bedrängnis. Dabei habe ich online rausgefunden, dass in Deutschland noch kein einziger Fall bekannt ist, bei dem ein Mensch von Wölfen verletzt wurde, und das, obgleich sich die Wolfspopulation jedes Jahr angeblich verdoppelt, dank des vielen Nachwuchs, den Wölfe haben. Das bedeutet natürlich auch, dass immer mehr Schafe, Kälber und Wildtiere daran glauben müssen. Für Bauern und Hirten und nicht zuletzt für Jäger, die ihr Wildbrett in Gefahr sehen, mehr als ärgerlich. Wobei ich gestehen muß, dass mir die Jäger noch am wenigsten leid tun.

Idealismus gegen Neonazis für den Johannishof bei Viespecken
Idealismus gegen Neonazis: eine Säule aus Ziegeln für den Johannishof bei Viespecken

Aber es gibt neuerdings noch eine ganz andere Sorte „Wölfe“, zumindest gesellschaftspolitisch gesehen. Etwas nördlich von der Viespeckener Mühle mauerte gerade ein Mann an einer Basis für etwas, als ich vorbeikam. Ich war neugierig. Was entstand denn hier Schönes? Eine Säule für den Johannishag, ein großes Gut für Behinderte mit Gärtnerei (Demeter-Qualität!), Werkstätten, Kunsthandwerk, Wohnheim, Theatergruppe und vieles mehr. In der Gegend, so erzählte er, gäbe es ziemlich viele Rechtsextreme, denen diese Einrichtung ein Dorn im Auge sei. Ein Mal habe man den selbstgebastelten Briefkasten zerstört, ein anderes Mal in deren Einfahrt gemalt: „ In der Nazizeit hätte man Euch alle vergast!“ Nur gut, dachte ich mir, daß es solche Zeitgenossen gibt, die sich für etwas einsetzen und damit ein Gegengewicht schaffen. Seine Frau sei selber fast blind, erzählte er, aber das sei kein Problem: “Wir wandern zu zweit in den Bergen, meine Frau ist schwindelfrei.“

Viele schöne Entdeckungen

Trotz Wolfsängsten habe ich diesmal besonders viel Schönes erlebt und viele schöne Flecken entdeckt. In Bücken war das Cafe „Flic-Flac“ so einladend mit charmanter Wirtin und kleinen, simplen Köstlichkeiten auf dem Menu, daß ich gar nicht erst mit meiner Tour starten wollte. Wenig nördlich in Hoya begeisterte mich ein originelles Kino-Cafe mit schöner Terrasse an der Weser, wo selbst der Blick aus der Toilette eine Pracht war.

Beschaulichkeiten vom Clo in Hoya
Toilette mit Aussicht auf den Fluß in Hoya
Kinoraum
Kinoraum mit Wohnzimmerathmosphäre

 

Nördlich von Verden schüttete es mal wieder und ich hatte das Glück, ein offenes Restaurant im einsamen Hochwald zu finden. “Hofcafe Haberloh” hatte an jenem Tag keinen Ruhetag und schien auf mich nur zu warten.  Der Wirt war sehr gesellig und trug passend zum Regen sonniges Gelb: gelbe Kopfbedeckung, gelbes T-Shirt, gelbe Schuhe.

Die beste Torte
Das außergewöhnliche Hofcafe Haberloh mit geselligem, farbenfrohen Wirt und seiner Frau, die Torten machen kann, wie es sonst niemand kann

Und nicht minder denkwürdig war die Qualität der Speise. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, ich bekam die beste Torte meines Lebens, bestehend aus Birnen, Schnaps, Schokolade und Rahm, und dazu die feinste heiße Schokolade. Am Schluß durfte ich nicht mal zahlen (http://www.hofcafe-haberloh.de/)! Ich kann diese Lokal nur wärmstens empfehlen, und das sage ich nicht so dahin aus Dankbarkeit wegen einer fehlenden Rechnung. Gestärkt und beschwingt brach ich auf, bereit für neue Abenteuer, bereit für eine weitere Nacht  im einsamen Wald.

Wolfswarnungen
Wolfswarnungen überall: “Kinder bitte beaufsichtigen!”

“Wölfe suchen auch in diesem Gebiet nach Beute. Hunde an kurzer Leine führen. Kinder bitte beaufsichtigen”, stand auf einem Schild wenig später. Das wäre doch gelacht, dachte ich mir und beobachtete ein zartes Reh, das neugierig nach mir spähte. Diesmal konzentrierte ich mich nur auf die Zeckengefahr und stellte mein Zelt neben einer Waldarbeiterhütte auf, wo der Rasen schön kurz war. Bekanntlich leben die kleinen Dinger ja vor allem im hohen Gras.

Abendbesuch von einer zarten Kreatur, vor der ich keine Angst haben musste
Abendbesuch von einer zarten Kreatur, vor der ich keine Angst haben musste

Und wenn wir schon bei Gesundheitsgefahren sind, noch etwas zu meinen neuen robusten Teva-Sandalen mit dem außerplanetarischen Namen “Terra Fi 4” mit der starken, elastischen Sohle. An den Innennähten kann man sich wundreiben. Das muß die Firma noch in den Griff bringen. Da hilft dann bei so einer Tour, wo man lange unterwegs ist und öfters auch mit nassen Füßen, nur frühzeitig antispetische Verarztung, Pflaster und bisweilen Wechsel in gute Goretex-Halbschuhe wie die  “XA3DUltra2” (noch schwierigerer Brocken!) von Salomon. Frischer Wind um die Zehen ist aber immer noch das beste, und deshalb gehe ich so viel wie möglich in meinen Teva-Sandalen. Da ermüden die Füße nicht.

Wundgeriebene Füsse
Antiseptisch und dann Pflaster drauf und Schuhwechsel!

Schwerer Abschied von Harry

Plötzlich tauchte ein gewisser “Harry” mit Fahrrad und Anhänger  auf und wollte mich sofort zu Kost und Logis einladen.  War nur leider die falsche Richtung. “Dann eben nicht!” meinte er, und schob sein Fahrrad in meine Richtung weiter.

Harry 2
Sieh mal, was ich da habe! Harry zeigt mir  seine kleine Schwalbe

Harry ist Müllaufleser vom Ort Krempel, und sein Markenzeichen ist Eimer und Besen, Schlauch und allerhand Gerätschaft , Mülltonne und Taschenlampe auf drei Achsen. Mit orangem Müllanzug, Schutzbrille, orangem Käppchen, Handschuhen, Bergstiefeln und einem schweren Radio um den Hals hängend, trottete er elastisch weiter. Sein Bechterew hatte er gut unter Kontrolle.  Alle Viertelstunde öffnete er seine Jacke: Da saß “Pieps” von den Elementen geschützt auf dem Radio. Die aus dem Nest gefallene kleine Schwalbe musste mit Pipette und Kleinstfutter gefüttert werden. Harry war einst Tierpfleger, Raubtier-Dompteur, saß wegen einer “mißverstandenen Hilfeleistung” ein paar Jahre im Knast, war Alkoholiker, Raucher, und dank seiner Berliner Schnauze erfuhr ich das alles innerhalb von wenigen Minuten.

Harry 3
Mit der Pipette kriegt Pieps was zu trinken. Früher war Harry Raubtier-Dompteur

Die große Lebenslust sprudelte aus Harry nur so heraus. Zuhause habe er auch ein großes Depot an Zelten, Schlafsäcken, Proviant. Warum? – doch ganz klar, er träume noch immer von einer großen Expedition.  Der Abschied fiel schwer, von so einem munteren, besonderen Charakter.

Harry 1
Trotz Bechterew voller Lebensfreude – Abschied fällt mir schwer vom Müllaufleser aus Krempel

Von hier war es nicht mehr all zu weit zur Küste.

Keine 30 Meter der letzten Autobahnüberquerung entfernt sah ich ein Dolmengrab, das wahrscheinlich kaum jemand kennt. Das heißt, nein, ich traf einen Einheimischen, der davon wußte, der aber gleich hinzufügte: “Ich war noch nie da!”

Dolmengrab
Dolmengrab versteckt und fast wieder vergessen

Dann wurde es mir fast feierlich zumute, wußte ich doch, dass sich meine Odysee dem Ende näherte. Die letzte, verächtliche Autobahnüberquerung, …

Die letzte verächtliche Autobahnüberquerung
“Ihr Betonpisten-Raser seht ja gar nichts!”

… der letzte traurige Milchkuhstall mit vollautomatischer Kuhfladenreinigung,…

traurige Gesichter
traurige Gesichter,
...trotz andersartiger Beteuerungen
…trotz andersartiger Beteuerung,
der letzte Deich
… der letzte Deich bei Spieka-Neufeld,
dann das lange Ende in die Fast-Unendlichkeit des Meeres
…dann das lange Hinaus in die Fast-Unendlichkeit des Meeres!

Hier war ich eigentlich schon am Ziel, hier an der Buhne mit den allerletzten Metern Fussweg ins Watt. Aber ich wollte noch weiter an der Küste entlang Richtung Neuwerk. Und jetzt kam die große Umstellung: Plötzlich musste ich mich mit Touristen herumschlagen. Darauf war ich nicht vorbereitet. In Spieka-Neufeld wollte ich auf dem Campingplatz mein Zelt aufstellen,  wegen der nahen Duschen- und Toilettenanlagen und des schönen Blicks aufs Wattenmeer. Es gab dort aber nur eine Wohnwagenabteilung und dort wollten die Trainingsanzug-Leute mit der Bierflasche vor sich auf dem Campingtisch nicht, dass ich mein kleines Zelt neben ihren großen Wohnwagen aufschlage. So versteckte ich mich weiter hinten und machte mich frühzeitig am nächsten Morgen aus dem Staub, um der territorialen Campingherrschaft zu entkommen. Ich pilgerte an der Wurster Küste entlang, dem Treffpunkt Sahlenburg entgegen, einer Ansammlung vn Bettenburgen, Ladenzeilen, Touristenrummel und Pferdekutschen. Aber deswegen war ich nicht gekommen.

mein Mann Joe und Sohn Finn
Zwei charmante Männer, mein Mann Joe und unser jüngerer Sohn Finn, vor den recht uncharmanten Bausünden und Bettenhochburgen von Sahlenburg bei Cuxhaven

Und da standen die beiden, Mann und Sohn, frisch aus dem Auto, müde von der langen Fahrt, strahlend, dass alles geklappt hatte. Bald fand das gesamte Gepäck einschließlich meines treuen Wanderrucksacks Platz in einem der Wattwagen, und wir gingen los, wir und Heerscharen anderer, Reiter, Wandergruppen und rund 50 Kutschen, die alle dem gleichen Ziel zustrebten: Neuwerk, dem kleinen letzten Tupfer im Meer.

Nein, stimmt nicht: weiter draußen gab es noch einen kleineren Sandausläufer, genannt Scharhörn, bestehend aus einem Wohncontainer für einen Vogelwart, ein paar Rosenbüschen und sonst nichts ausser Sand, Vögeln, Wind und Brandung. Dort mußte ich natürlich auch hin, aber Ironie zum Schluß: leider nicht zu Fuß sondern brav mit den anderen Touristen in der Kutsche, weil die vielen Pferde die Priele mit so viel Pferdeäpfeln angereichert hatten, dass ich mit meinen offenen Stellen an den Füssen aufpassen mußte, mich nicht zu infizieren und zumindest im Wattenmeer keinen Schritt mehr gehen durfte. Die Wölfe hatte ich längst vergessen in dieser weiten Sandlandschaft. Stattdessen spähte ich jetzt nach Kamelen, meinen Lieblingstieren mit den  sanften langen Nasen. Sie waren schon mal als Karawane auf die Insel gekommen. Aber das war Jahre her und so spähte ich nach ihnen in dieser sonderbaren, weiten Wüstenlandschaft auf Zeit leider vergebens.

Und wohin jetzt? Nach über 1000 Kilometer zu Fuß von Ehrwald in Tirol ins Wattenmeer stellt sich von Neuem die Frage. Eine schwere Frage, bei so viel Möglichkeiten, die es selbst für mich als älteres Semester gibt. Aber das sollte eigentlich gar keine Rolle mehr, spielen, nachdem ich nicht Kayakfahrer Doba heiße. Denn wenn ich eines gelernt haben sollte, dann, dass es beim Fernwandern – und Reisen im Allgemeinen – eigentlich nicht auf Leistung ankommt, Leistung im Sinn von Arbeit, sondern  auf’s Wahrnehmen, also die Fähigkeit zu sehen, und zwar mit Augen und Verstand. Und das kann man doch überall. Sofern der Verstand noch mitmacht. Und den Ehrgeiz ein wenig im Zaun hält.

Zur Strafe per Kutsche
Zur Strafe per Touristen-Kutsche

 

China
China ist überall, auch am Ende der Welt