Amisch – Teil 3: Wie ist Fliegen?

 

Amisches Flugzeug

Jacob hat ein kleines Flugzeug gebastelt. Der 8jährige hat sogar an die Propellerschraube an der Spitze gedacht und wenn man sie dreht, windet sich durch ein Röhrchen an der Unterseite ein Gummiband auf, das die Schraube bedient. Als Antrieb zum Fliegen reicht es nicht ganz aus, aber zum Spaß allemal. Technische Entwicklung interessiert einen eben doch, wenn man amisch ist und so einem Flugschiff nachsinnt, das man von Weitem am Himmel erblickt.

Je mehr ich meine amischen Freunde kennenlerne, um so mehr merke ich, dass manches in der Aussenwelt eben doch ihr Interesse weckt. “Wie laut sind denn die Motoren, wenn man drinnen sitzt?”, “Wie ist das, wenn ein Flugzeug in die Luft startet?”, “Ist der Flug unruhig?” Das sind Fragen, die auch andere Freunde beschäftigen.

Nach dem Mittagessen geht's wieder in die Schule
Nach dem Mittagessen geht’s wieder in die Schule

Meine Fragen an sie wären mindestens genauso viele, wie beispielsweise: “Geht es manchmal nicht schief, wenn man als Hebamme ohne ärztliche Hilfe Hunderte von Kindern auf die Welt bringt?”, “Vermisst man nicht doch die Waschmaschine?”, “Was passiert, wenn Ehepartner nicht mehr zusammen passen?”

Die erste Frage hat meine Freundin Loanne mit einem eindeutigen “nein” beantwortet. Sie muss es wissen, weil sie als Hebamme ständig im Einsatz ist: Ein einziges Kind sei zwar ein paar Tage nach der Geburt gestorben, habe aber schon vor der Geburt ein schwaches Herz gehabt, und eines kam mit einem gebrochenen Oberarm auf die Welt, weil es mit der Schulter im Geburtskanal hängen geblieben war, ansonsten sei immer alles gut gegangen. Die zweite Frage habe ich noch nicht gestellt und die dritte Frage kann ich selber beantworten: Man würde wohl sagen, dass der Bund vor Gott geschlossen ist und deshalb schon alles gut geht.

Pflügen mit 4 PS
Pflügen mit 4 PS

Gut geht’s mir, wenn ich bei meiner Ankunft um die letzte Kurve biege und ich mich plötzlich in einer völlig anderen Welt befinde. Ich sage noch überschwenglich “Hallo, wunderschön Euch zu sehen!”, dann schauen sie mir freundlich in die Augen, begrüßen mich heiter und schlicht, und bald schon tauche ich ein, in die gemeinsame Arbeit. Ich genieße dabei meine Kraft, auch wenn mir manchmal mein Rücken weh tut, und setze sie voller Stolz ein. Halt! Wenn ich eines noch lernen muss, dann ist es, mich mehr zurückzunehmen. Ich will immer helfen, erfreuen, mich durch nützliche Leistungen hervortun. Oft schelte ich mich selber dafür, aber bis jetzt trete ich auf der Stelle. Ich müßte wohl tief religiös sein, um diese innere Kraft aufzubringen und bescheiden zu werden. Doch das fehlt. Ich kann zwar sagen: “ich glaube”, aber es ist nur ein „ich glaube, dass es keinen Gott gibt“. Gutes Benehmen ist zwar ansteckend, aber zum Glauben reicht das noch lange nicht. Meine Freunde bedauern mich in diesem Punkt zwar, ohne es zu sagen, aber Missionieren liegt ihnen fern.

Seit Jahren nun habe ich gesehen, wie meine amischen Freunde ihre Kinder erziehen und wie sie sich untereinander benehmen. Jeder hilft jedem, jeder ist mit seinem Nachbarn großzügig, springt ein, wenn der andere in Not ist, übernimmt so eben mal einen Schwung Kinder für ein paar Tage, wenn es beim anderen Drunter und Drüber geht. Selbst der Hahn wird auf eine humane Art, nämlich mit einer scharfen Machete, getötet. Und die 6jährige Rosanna hält schon ihren 2jährigen Bruder sanft im Schoß.

Nudeln machen
Nudeln machen ist – puh! – anstrengend

Die Mutter arbeitet von früh bis spät, wäscht die ganze Wäsche mit Hand, und ihr Mann, zu dem sie aufschaut, arbeitet fast noch härter, schultert noch mehr, weicht schon am Vorabend die Wäsche ein, ist der erste morgens, um die vier Ackergäule fürs Pflügen einzuspannen, repariert das Dach und macht tausend geschickte Erfindungen, um das Leben der Familie einfacher zu machen. Wenn dann Not an der Frau ist, weil sie krank oder hochschwanger ist, krempelt er mittags und abends auch noch seine Hemdsärmel auf, wäscht wieder Tonnen an Geschirr, fegt den Boden, hilft mit dem Kochen und wechselt noch die nassen Stoffwindeln bevor er den Kleinen eine Gute-Nacht-Geschichte vorliest.

Die Szenen sind so bewegend und fotogen anmutig! Aber Posieren wäre verpönt, das Gegenteil von Bescheidenheit und des Teufel’s Werk. Deshalb mache ich auch keine Aufnahmen, höchstens aus größter Entfernung und dann so, dass man niemanden erkennen kann und verändere auch die Namen in diesem Artikel.

Wie ist Fliegen? Und wie ist es, wenn man niemals fliegt und niemals fliegen wird?

Geschlachtetem Hahn Flaum absengen
Hahnen-Flaum absengen macht man im Freien

Drei Mal am Tag wird warm gekocht: das heißt, die Essensbereitung ist ein Riesenaufwand. Im Fall meiner 9-köpfigen Gastgeber-Familie gibt es zum Frühstück Eier, Fleisch vom Wild, Schwein oder Huhn. Dazu Griesbrei, Molasse, Honig, Butter, Brot, Pfefferminztee, Kaffee, Ketchup, scharfe Soße für die Eier und Hüttenkäse. Natürlich ist alles, außer Kaffee, Zucker und Salz, aus eigener Herstellung. Mittags gibt es Eintopf, wieder Brot, Reste von der letzten Mahlzeit, Gemüse und Eingemachtes. Abends gibt es ähnliches, nur neu kombiniert, mit neuen Speisen wie Apfelcobbler und ähnlichen Raffinessen. Zu jeder Mahlzeit trinkt man Milch, weshalb die Zähne so gut sind, obwohl sie diese nur einmal pro Woche putzen (Vater Abram hat mit 40 Jahren noch kein Karies). Auch das mühsam selbstgekurbelte Eis steht regelmäßig auf dem Speiseplan. Jeder ißt kräftig, und wenn auch niemand wirklich dick ist, sind doch viele Jugendliche stämmig und die älteren Frauen öfters mit einigen Extrapölsterchen ausgestattet. Essen als Lebenselexir! Mir wäre der Aufwand zu hoch, aber meine Freunde mögen es, wenn sich der Tisch vor lauter gutem Essen biegt.

Der Waschzuber mit Handbedienung
Amische Luxus-Waschmaschine

Typisch die folgende Besuchsszene: Wenn alle „Chores“ am Abend erledigt sind, klopft es an der Tür, ein Dutzend Gäste stiefelt herein, murmelt eine Begrüßung, die Männer und Buben setzen sich in die eine Ecke des Wohnzimmers und die Frauen und Mädchen in die andere, in die Nähe des Herdes. Die Männern beginnen  ein Gespräch über die Ernte und Gemeindeangelegenheiten, die Frauen helfen bei letzten Vorbereitungen, reden über Kinder, Kochen, Hausarbeit oder sitzen einfach stille. Ich habe junge Mädchen beobachtet, die praktisch den ganzen Abend kein einziges Wort über die Lippen gebracht haben. ‘Was geht in ihnen vor?’ denke ich dann oft. Sind sie so scheu, brodelt es in ihnen, oder sind sie nur von der Arbeit müde? Wenn alles gerichtet ist, bedienen sich Männer und Buben beim Essen zuerst, dann kommen die Frauen und Mädchen an die Reihe. Am Schluß werden in Fließbandarbeit wieder Berge von Geschirr erledigt, die Gäste gehen fast grußlos hinaus und fahren mit dem Buggy nach Hause.

Ist aber die Familie unter sich, wird es oft gesellig. Man spielt zusammen,  man lacht, und selbst ich, die schlechteste Witzeerzählerin aller Zeiten, kann mit den albernsten Sprüchen noch herzhafte Lacher ernten.

Große Konservenvorräte im Keller
Für den Winter ist gesorgt!

Oder bei der Arbeit: Wenn man auf dem Feld Unkraut herauszieht, sich dabei den Rücken krumm macht oder “Corn huskt” und dabei viel Staub schluckt, kommt man in Fahrt. Es wird gewitzelt, es wird mit einander um die Wette gekämpft:  Wer schafft die Reihe schneller, und wem gelingt es, ohne mit der Wimper zu zucken, bei einem Schlag auf den eigenen Kopf einen harten Maiskolben in zwei Teile zu brechen? Beim Heimkehren, als die Buben hinter dem großen Leiterwagen herspringen, findet einer noch im abgeernteten Feld eine Indianer-Pfeilspitze. Später sammeln wir die Eier und begutachten die schönsten Hühner, die wir mit goldbraun meliertem Prachtfederkleid im Arm halten – Vergnügen und Arbeit sind immer nah beieinander.

Im Sommer badet man im nahen Fluss, fischt, jagt, reitet, paddelt im Kanu, spielt alte Gruppenspiele wie “Ten-Eskimos”, in der kühleren Saison bastelt man kleine Heißluftballoons und im Winter fährt Alt und Jung Schlittschuh oder Schlitten, und alle, selbst die Lehrer  in der Schulpause im Pausenhof machen immer mit. Es herrscht erstaunlich viel Integration. Die einzige Begrenzung ist die Zeit, und alles fällt abends todmüde ins Bett, um morgens noch im Dunkeln wieder raus aus den Federn zu springen oder zu  kriechen.

Der amische Fuhrpark
Der amische Fuhrpark

Ich bin hier, um zu lernen und zu arbeiten, und weiß nur, dass wenn ich mich wieder verabschiede, das Gefühl habe, das Paradies zu verlassen.

Gleich nach meinem Rückflug am nächsten Tag ging ich in Houston zum International Quilt Festival, einem wahrhaft gigantischen Feuerwerk an Kreativität und Individualität: Die Kontraste hätten nicht größer sein können! Bei  den Amischen dunkle, gedämpfte Farbtöne, kein Sich-zur-Schau-stellen, kein Tanz und keine Unterhaltungsmusik, hier die verwegensten Farben, Formen und Superlative.

Was für ein Kontrast! Schon zuvor, beim Einsteigen ins Flugzeug, war er mir sofort ins Auge gefallen: individuelle Haarschnitte und Moden, hier ein nichtssagender Blick, dort eine gewichtige Miene von ganz anders gestrickten Wesen.

Doch dann fiel der Blick auf die vielen Smartphones: jeder beugte sich über dieses elektronische Herzstück seiner selbst. Dicht gedrängt saßen sie jetzt und schienen doch ganz weit weg entrückt auf einem anderen Planeten.

Beim Nachbarn gibt's noch keinen Feierabend
Beim Nachbarn gibt’s noch keinen Feierabend

Ich setzte mich auf meinen Platz und als ich wenig später den Flugbegleiter um Orangensaft bat, lag schon ein anderer Ton in meiner Stimme. Benehmen ist ansteckend: schon verwandelte ich mich zurück in was ich vorher war und holte  etwas zögerlich auch mein Smartphone heraus.

Vielleicht ist die Frage „Wie ist Fliegen?“ auch in meinem Kopf nicht ganz beantwortet.

Mein Mann sagt, ich sei anfangs nach meiner amischen Zeit immer etwas schwieriger.

Eine einfache, aber sehr gute Schule
Eine einfache, aber sehr gute Schule

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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